Midnight Mass: Die Hölle auf Erden - Kritik zur Netflix-Miniserie (2024)

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Von: Bjarne Bock

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Midnight Mass: Die Hölle auf Erden - Kritik zur Netflix-Miniserie (1)

Die Netflix-Miniserie Midnight Mass beginnt so langsam und kontemplativ, dass das wilde Ende umso wilder wirkt - ein absoluter Höllenritt! Serienschöpfer Mike Flanagan festigt seinen Stand als frisch gekürter Horrorfürst.

Rückblickend scheint es ziemlich albern, dass wir den neuen Netflix-Siebenteiler Midnight Mass nur basierend auf der ersten Episode beurteilen wollten (unser Pilotreview). Denn welche wahnwitzigen Wege die Horrorserie einschlägt, deutet sich eigentlich erst nach drei, vier Folgen an. Immerhin haben wir korrekt vorhergesagt, dass das jüngste Werk von Mike Flanagan (The Haunting of Hill House, „Doctor Sleep“) wieder mal fantastisch ist. Und dieser Eindruck verstärkt sich zum fulminanten Finale umso mehr.

Wer nur vage an einem gruseligen Inseldrama mit religiösen Motiven interessiert sein könnte, sollte Midnight Mass einfach sofort losstreamen. Denn selbst der kleinste Spoiler kann bei dieser unerwarteten Serie großen Schaden anrichten. Auch diejenigen, die das Format schon angetestet haben und es vielleicht für zu langsam oder zu christlich empfunden haben, sollten der Sache eine zweite Chance geben. Hier steigert sich die Spannung von Ausgabe zu Ausgabe, bis alles in einem gewaltigen Feuerwerk eskaliert, das im Serienjahr 2021 seinesgleichen sucht.

Offenbarungen

Um ja keine Bits und Bytes zu verschwenden, steigen wir direkt ein: Wer hier noch weiterliest, sollte Midnight Mass bis zum Ende durchgeschaut haben. Nachdem es anfangs noch so aussieht, als ob die imaginären Dämonen des psychisch geplagten Protagonisten Riley Flynn (Zach Gilford) den Grusel auf die Insel bringen, erkennen wir bald, dass wir es vielmehr mit einem Dämon aus Fleisch und Blut zu tun haben. Der Pastor Paul Hill (Hamish Linklater), der sich als wundersam verjüngter Monsignor Pruitt herausstellt, hat den fliegenden Nosferatu-Verschnitt von einem Besuch im Heiligen Land mitgeschleppt und hält ihn für einen Engel. Nun will er allen Inselbewohner:innen dasselbe göttliche Geschenk ermöglichen, das er bekommen hat: ewiges Leben (als Vampir).

Mike Flanagan, der alle Folgen von Midnight Mass selbst geschrieben und auch inszeniert hat, sagt in Interviews, dass man ihm die Bibel zufällig zur selben Zeit näherbrachte, als er „Dracula“ für sich entdeckte. Die Parallelen zwischen dem christlichen Glauben und antichristlichen Gestalten haben ihn sofort fasziniert. Und selbst der Papst kann nicht verleugnen, dass die heilige Schrift seiner Weltreligion viele Passagen enthält, die schlichtweg entsetzlich sind. Besonders natürlich in der Offenbarung des Johannes, die ein verstörendes Bild vom Ende der Welt zeichnet. Nur mit dem Versprechen von Liebe kann man die Menschen eben nicht zum Glauben locken; Angst gehört genauso dazu.

Diese Vermischung von Gut und Böse gelingt Flanagan in Midnight Mass hervorragend. Für mich persönlich war bis zum Ende nicht ganz klar, ob die Vampire vielleicht ja doch die Engel Gottes sein sollen. Zumindest die Idee, dass sie es sein könnten und dass das Versprechen des Christentums so pervertiert erfüllt würde, schien als Religionskritik recht reizvoll. Wirklich wütend gemacht hat mich dann, dass Netflix bei YouTube ein „offizielles“ Erklärvideo veröffentlicht hat, in dem über Flanagan hinweg verkündet wird, dass es die Vampirauslegung Fakt sei (siehe hier - oder lieber nicht!). Wenn Streaminganbieter jetzt schon ihre eigenen Werke erklären und standardisierte Interpretationen vorgeben, kann die Apokalypse gerne kommen...

Midnight Mass: Die Hölle auf Erden - Kritik zur Netflix-Miniserie (2)

Ein weiteres Augenmerk von Mike Flanagan, das Midnight Mass zu seiner bislang persönlichsten Arbeit macht, liegt im Alkoholismus der Hauptfigur, die interessanterweise schon vor dem Finale ihren ewigen Frieden machen darf. Die spezifischen Ängste, die im Charakter Riley Flynn zum Tabuthema Trinken ausgedrückt werden, lassen keinen Zweifel daran, dass Flanagan selbst diesen Dämon nur zu gut kennt. Dabei werden auch wieder unerwartete Bezüge zur Religion hergestellt. Der Pastor, der preisverdächtig eigensinnig von Linklater porträtiert wird, würde Riley vorwerfen, dass der Griff zur Flasche einer Ablehnung des großzügigen Geschenks Gottes gleichkommt, dem Leben selbst. Der Antiheld kann die von Gott geschaffene Welt nicht nüchtern ertragen, was Gott durchaus persönlich nehmen könnte.

Doch Midnight Mass legt auch immer großen Wert darauf, klarzumachen, dass im religiösen Fanatismus - allen voran die hassenswerte Heuchlerin Bev Keane (Samantha Sloyan) - das wahre Übel liegt. Überemsige Gotteskrieger mag Gott am wenigsten; lieber sind ihm die verlorenen Schafe, die gar nicht an ihn glauben wollen (so wie Riley). Dabei hat sowieso jede Figur im Ensemble ihre ganz eigene Last zu tragen. Auf dieser Insel würde selbst die simple Frage nach der Uhrzeit mit einer Offenbarung des größten Lebenstraumas des Gegenübers beantwortet. „Es ist halb Fünf - genau so spät war es, als meine gesamte Familie von Elefanten totgetrampelt wurde, weil ich im Serengeti-Park beim Fotografieren nicht den Blitz abgestellt hatte...“

Sympathische Figuren für uns nichtgöttliches Fußvolk aka das Publikum gibt es inMidnight Mass erstaunlich wenige. Allen voran Sheriff Hassan (Rahul Kohli), der kurz vor Schluss seine eigene bewegende Backstory erzählen darf. Und natürlich Erin Greene (Kate Siegel), die sich später als heimliche Protagonistin erweist. Sie übernimmt die Fackel sprichwörtlich von Riley und zündet damit die Vampire an, bis schließlich die ganze Insel brennt, was beeindruckende Aufnahmen erzeugt. Als Frau und Muse Flanagas ist der Schauspielerin Siegel zudem eine geniale Abschiedsrede vergönnt, die einfach wunderschön inszeniert wird.

Stil mit Substanz

Die Inszenierung ist sowieso ein wichtiges Stichwort. Denn so profund die Themen der Serie vorgeschrieben sind, überzeugt auch der Ton, in dem Flanagan sie anspricht. Dass er mit großen Ambitionen an Midnight Mass herangeht, war früh zu erkennen. Schon nach wenigen Minuten sieht man ein gespenstisches Charakterdesign, das ich so noch nie gesehen habe und sich tief in meine Hirnzellen gebrannt hat. Erwähnenswert sind auch diverse Plansequenzen in den sporadisch eingesetzten Actionszenen. Etwas zu konventionell fällt für mich eigentlich nur der oberste Vampirengel selbst aus (wie gesagt ein Nosferatu-Abziehbild).

Einfallsreich finde ich aber auch, wie Flanagan uns die Welt aus Sicht der Verwandelten zeigt. Wie sie als Untote das Leben viel lebendiger und farbenfroher wahrnehmen. Wie sie in den Sternen nicht nur Lichter sehen, sondern auch Geister. Wie einfach alles intensiver wird! Also wäre da nicht der Haken mit dem Feuerfangen im Tageslicht, wünscht man sich glatt selbst gebissen zu werden. Zumal dem Gros der Vampire ein unerwartet versöhnliches Ende vergönnt ist. Wie auf der Titanic singen sie den Choral „Nearer, My God, to Thee“ und erwarten ihr gerechtes Schicksal. Übrigens ist das auch das Lied, das der Nachrichtensender CNN vorbereitet hat, falls unsere Welt im echten Leben untergeht (nur als Fun Fact).

Was abschließend auch noch unbedingt beklatscht werden muss: Midnight Mass impliziert sein (verhältnismäßiges) Happy End - nämlich, dass der Obervampir ausgelöscht wurde -, indem ein junges Mädchen plötzlich wieder von der Hüfte abwärts gelähmt ist. Eine so schwarzhumorige Abschlussnote würde sich auch nicht jede Serie trauen...

Hier abschließend noch der Trailer zur Serie Midnight Mass beim Streamingdienst Netflix:

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